Da sitze ich nun, leicht deprimiert und bringe die Gedanken nicht aus dem Kopf. Ich starre in die Luft und versuche an nichts zu denken. Klappt nicht. Auch nicht beim zweiten Glas Wein. Wie konnte der Tag nur eine solche Wendung nehmen?
Der Tag fing sehr gut an - verdächtig gut. Ich bin zwar nicht ganz flott aus dem Bett gekommen, aber dazu war keine Notwendigkeit. Ich habe immer noch „Ferien“. Die Sonne scheint durch den halb offenen Fensterladen und es kitzelt mich dennoch aufzustehen. Kaum auf den Beinen, bin ich gleich super motiviert. Ich putze die Wohnung, sehe mir einige Tutorials an, bereite mir ein leckeres Frühstück zu und bereite mich auf das Bewerbungsgespräch von heute Nachmittag vor. Ich bin stolz, ich habe für die aktuelle Situation erstaunlich viele Chancen, um mich für tolle Jobs zu bewerben.
Top motiviert gehe ich zum Jobinterview, es läuft gut. Ich fühle mich locker, wir lachen viel. Bis..
Und plötzlich wendet sich das Blatt
... ich, gegen Ende des Gesprächs, gesagt bekomme, dass ich zu wenig emotional bin. Der Gesprächspartner, in Person des HR-Chefs, kann mich nicht greifen. Öh, ja.. Bitte, wie? Abgesehen davon, dass hier nichts gegriffen werden soll, was heisst hier zu wenig Emotion? Hat ihnen meine Steptanznummer auf dem Tisch gefehlt? Ich bewerbe mich nicht als Pole-Tänzerin.
Ich bin irritiert und das noch weit über das Gespräch hinaus. Selbst wärmender Sonnenschein und die aufmunternden Worte meines Freundes stoppen das Gedankenkarussell nicht.
Ablenkung naturale
Jetzt sitze ich auf der Terrasse, ein Glas Rotwein in der Hand und den Kopf in der Luft. Ich starre in die untergehende Sonne bis bunte Kreise vor meinem Auge tanzen. Die ersten Mauersegler erscheinen und zeigen schwungvolle Flugkunststücke. „Die haben es schön“, denke ich. Einfach gleiten und Mücken einsaugen. Stelle ich mir toll vor. Die haben sicher keine blöden Gedanken oder Begeisterungsprobleme.
Keine Emotion, keine Leidenschaft, kein Empfinden - das würde bedeuten, dass ich nur dort gesessen bin. Und nein, das bin ich nicht. Wie gesagt, wir haben gelacht - gemeinsam. Ich habe von mir, meinen Erfolgen und meinem Leben erzählt. Allein hier habe ich mindestens 6, der aktuell erforschten, 27 Emotionsarten zum Besten gegeben. Somit weit weg von emotionslos. Definitiv!
Ein prächtiger Amslerich setzt sich aufs Dach und wirbt um ein Weibchen. „Wie hübsch du singst“, schmeichle ich ihm. Und als würde er mich verstehen, trällert er noch lauter. Was für ein wundervoller Ausdruck von Lebhaftigkeit (auch eine Emotion).
Ein Silberstreif am Horizont
Ich lasse den Kopf in den Nacken gleiten und starre ins Blau. Das beruhigt mich. Während ich nach oben sehe, fällt mir etwas auf, dass ich länger nicht mehr gesehen habe: Den Kondensstreifen eines Flugzeuges. Die sind mit dem ganzen Virus echt selten geworden. War vor ein paar Wochen noch das gesamte Himmelsblau durchsiebt mit weissen Streifen, kommen sie heute nur noch selten vor. Eine aussterbende Rasse sozusagen.
Es ist auch um einiges ruhiger geworden. Hast du das auch bemerkt? Vogelzwitschern, das Rauschen eines Flusses, das Rascheln, der sich im Wind wiegenden Blätter – alles ist intensiver. „Wie lange das noch so bleibt“, überlege ich. Von mir aus kann es so bleiben. Ich geniesse die naturale Unterhaltung.
Und während der Streifen sich mehr und mehr in.. na ja, Luft auflöst, zerstreuen sich auch meine Gedanken. Ich bin weder emotionslos noch emotionsgeladen. Ich bin ich, und das ist gut so! Alles relativiert sich und mein Groll (auch eine Emotion) über eine unbedachte Aussage ist verflogen. Was ein bisschen Natur (Bier, Chips und Schokolade) ausmachen kann.
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