Es sind keine bestimmen Tage oder Zeiten, in denen sie mir in den Sinn schwebt, auch keine spezifischen Situationen, aber jedes Mal, sei der Gedanke noch so kurz oder klein, überkommt mich ein wirklich wohliges Gefühl. Es sind schöne Gedanken, die mich dennoch etwas wehmütig werden lassen. So lange ich mich als Kind erinnern mag, war sie für mich da, war an meiner Seite und hat mich verwöhnt und versorgt, verhätschelt und geliebt - bedingungslos, egal welchen Mist ich wieder angestellt habe und davon gab es einiges.

 

Noch heute muss ich schmunzeln, wenn ich an ihre lustige und manchmal auch listige Art zurückdenke. An viele ihrer Sprüche kann ich mich erinnern, nicht komplett detailgetreu, aber sinnhaft. Und viele bekommen erst heute, mit der nötigen Reife meinerseits, einen Sinn. Sie war eine grosse Frau - nicht äusserlich, denn sie war zierlich und klein, aber innerlich war sie stark und weise. Als Kind habe ich das noch nicht so sehr erkannt, für mich war sie so wie sie war, eine Heldin. Tatsächlich war sie eine Strategin und die heimliche Herrin des Hauses.

 

An unser Eis-Spielchen erinnere ich mich immer wieder gern und erwische mich auch heute noch, wie ich es in Gedanken beim Wunsch nach einer kalten Erfrischung vor mich hinsage. Auf meine Frage „Bekomme ich ein Eis?“ antwortete sie stets mit „Scheiss“ und öffnet lachend das Eisfach, um einen Jolly oder Twinny hervorzuzaubern.

 

Leider hat sie nicht bei uns gelebt, aber als Kind war ich oft bei ihr oder sie bei uns, es waren ja nur wenige Kilometer, die unsere Zuhause voneinander getrennt haben. Sie war meine Schulter zum Anlehnen, weg von elterlichem Ärger, die Ruhe selbst, die Geborgenheit ausstrahlt und familiäre Nähe ist. Viele ihrer Ratschläge waren hilfreich und einige helfen mir auch heute noch durch schwere Zeiten. Während ich andere, wie zum Beispiel den Tipp keine Kurven zu fahren, da sie gefährlich sind, lieber lächelnd nicht befolge.

 

Ich erinnere mich, dass bei jedem Besuch ihr Haus von einem fantastisch leckeren Duft eingehüllt war - kochen und backen, das konnte sie. Da könnten sich die heutigen Gault-Millau-Hauben-Super-Köche eine Scheibe abschneiden. Low Carb und Lactose-frei, das kannte man damals noch nicht. Und das war gut so. Es musste einfach lecker sein und das war es, immer. Auch hat sie sich immer die Zeit genommen, um sich in die Töpfe schauen zu lassen. Gerichte, welche nur sie kann und auch mit dem Originalrezept niemals wieder so schmecken wie bei ihr, das prägt fürs ganze Leben. Meine Highlights waren immer die Tage, an denen ich helfen konnte. Fasziniert habe ich zugesehen, wenn sie mit ihren, bereits damals von Gicht gekrümmten, Fingern einen perfekt dünnen Strudelteig gezogen hat. Und ich durfte helfen - selbst Eier aufschlagen oder die einzigartige, bis heute unerreichte, Füll-Mischung aus Äpfeln, Nüssen, Brösel zu verteilen. Rosinen gab es meist nur auf einer Seite des Strudels, da ich diese damals als Käfer identifizierte und kategorisch verschmäht habe. Die professionell zusammen-gerollte Köstlichkeit verschwand dann im Ofen, um nur wenige Minuten später einen herrlichen Duft im Haus zu verteilen und auf meiner Zunge zu schmelzen. Ach, wie herrlich war dies!

 

Ihre Scheu vor der Kamera kann ich bis heute nicht verstehen, denn sie war schön, eine wahre Schönheit - innen wie aussen. Und dennoch hat sie sich jedes Mal, wenn die Linse in Sicht kam, abgewendet oder die Hand vors Gesicht gehalten. Dem zu Folge ist sie auf den meisten Bildern nur teilweise oder gar nicht zu sehen. Warum die Scheu? Ich weiss es bis heute nicht, ich glaube niemand wusste es, vermutlich nicht mal sie selbst.

 

Dass wir uns nach meinem Auszug in die Ferne nicht mehr regelmässig gesehen oder gehört haben, lag sicher nicht an meiner schwindenden Zuneigung zu ihr. Vielmehr war es das bewegte Leben, das hier reingespielt hat und nicht jeden Zeitpunkt für mögliche Telefonate freigehalten hat. Heute bereue ich dies ein wenig. Noch einmal die kindliche Freude miterleben, wenn sie mir ein Eis aus dem Eisfach holt, oder mich nach dem Bad abtrocknet. Eine Geschichte, von ihr vorgelesen oder tröstende Worte, nachdem ich hingefallen bin. Nur eine Umarmung, wie schön wäre das. Nur leider nicht mehr möglich. Sie war ein wichtiger Teil meines Lebens und Anlaufstation in allen Lebenslagen. Die starken Bande, die wir damals geknüpft haben lassen sich nicht durchtrennen, denn Blut ist dicker als Wasser und die tiefe Liebe zu ihr bleibt ungeachtet aller Dinge, die da kommen, bestehen.

 

Heute wäre ihr 99igster Geburtstag.

Oma, ich hab dich lieb!

 

@2018 Sonja Schöberl