In Quito, Ecuadors Hauptstadt, werden jährlich über zehntausend Menschen überfallen und verletzt. Dass ich einmal Teil der Statistik sein würde, hätte ich mir bis an diesem Freitag im Februar nicht gedacht.
Während ich auf der Krankenbahre lag, dachte ich mir, was das wieder für eine sinnlose Aktion war und ich überlegte mir wie ich danach wohl aussehen werde. Mein Leben zerstört, wegen 3$? Mein Spanisch war zu diesem Zeitpunkt schon sehr gut und ich verstand, dass der Arzt sehr darauf bedacht war seine Sache gut zu machen. Dr. Wilson stand auf seinem Schild, an den Nachnamen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber jetzt wo ich das schreibe merke ich, dass ich mich nie bei ihm bedankt habe.
Eine 2013 erstellte Studie aus den USA stuft Quito als „kritisch“ in Bezug auf Kriminalität und allgemeine Wohnsicherheit ein. Taschendiebstahl, bewaffneter Raubüberfall, Diebstähle aus dem Hotelzimmer werden hier als häufigste Delikte genannt. Die Bandbreite reicht jedoch von Diebstahl und Gewaltdelikten, einschließlich bewaffnetem Raub, Einbruch, über sexuelle Übergriffe bis hin zu mehreren Fällen von Mord und versuchten Mordes.
Die Zahl der Überfälle in Downtown Quito, also im historischen Zentrum, in dem sich die Touristen aufhalten, soll im 2009 um 22 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen sein. Von Gegenwehr wird in jedem Fall abgeraten.
Mir war klar, dass die Gefährdung durch Kriminalität nicht mit europäischen Verhältnissen vergleichbar ist. Und natürlich ist es in Städten immer gefährlicher als in kleinen Dörfern rund um eine Stadt herum, aber dass es so schlimm ist war mir damals nicht bewusst.
An dem Abend, den ich hier beschreibe, waren wir in einer Gruppe von acht Personen unterwegs. Wir hatten uns erst eine Woche zuvor kennengelernt, im tiefsten Dschungel von Ecuador machten wird gemeinsam einen Trip. Wir alle waren in Quito zwischengelandet und würden in den nächsten Tagen weiterreisen. Deshalb wollten wir uns nochmals treffen. Es war ein lauer Abend, die Strassen gefüllt mit gut gelaunten Menschen.
In Quito gibt es das legendäre Party-Viertel El Mariscal, wegen seines hohen Touristenanteils auch «Gringolandia« genannt (als «Gringos» werden eigentlich nur Nordamerikaner bezeichnet, aber in diesem Fall sind alle Touristen gemeint). In Mariscal finden sich viele Bars und Discos; man ist hier ständig in Bewegung. Deswegen ist es auch relativ sicher, sich dort nachts aufzuhalten. Dennoch gilt auch nachts, was tagsüber gilt: Nur das nötigste Bargeld mitnehmen und nach Hause immer mit dem Taxi fahren, besonders, wenn es eine weite Strecke ist. Taxis sind spottbillig (auch für große Strecken weit unterhalb des Preises eines Bieres).
Jene unter euch, die bereits als Backpacker unterwegs waren, wissen, dass man, je länger man unterwegs ist, oft zum Rappenspalter wird. Man wird knausrig und spart auch schon mal an den falschen Enden. So ist es auch uns ergangen in dieser Nacht. Am Ende unseres Treffens waren wir noch zu viert, zwei Frauen, zwei Männer. Wir mussten ins selbe Hostel zurück, jedoch der Taxipreis von 3$ war uns zu hoch und wir beschlossen, die kurze Strecke zu Fuss zu gehen. Was sollte schon gross passieren? Wir waren nicht allein, die Strasse war beleuchtet und eine Strecke von geschätzten 20 Minuten sollte doch keine Gefahren bergen. Wir waren nicht betrunken. Natürlich, es waren ein paar Mojitos im Spiel, aber jeder von uns war bei klarem Verstand.
Als wir in die Seitenstrasse einbogen überkam mich innert Sekunden ein mulmiges Gefühl. Noch bevor ich noch meine Bedenken den anderen mitteilen konnte, sprangen zwei junge Burschen hinter der nächsten Ecke hervor. Wie in allen Weggeh-Gegenden der größeren Städte gibt es auch hier stets einen Anteil an berauschten Menschen, der Fremden gegenüber nicht immer freundlich gesonnen ist. Das bekamen auch wir in diesem Moment zu spüren.
Die Streitsuchenden zogen eine von uns an den Haaren zu Boden. Ich dachte, ich sei im falschen Film, und was sich in den nächsten Minuten abspielte, fühlte sich mehr als irreal an. In Sekundenbruchteilen schossen mir tausend Gedanken durch den Kopf. «Was wollen die? Soll ich wegrennen? Soll ich helfen? Wie?»
Schreie durchzogen die Nacht und wie mechanisch begann ich mit zwei Wasserflaschen, die ich mir als Proviant mitgenommen hatte, auf die beiden Unruhestifter einzuprügeln. Sie waren kleiner als ich, aber mir technisch eindeutig überlegen. Gegenwehr war nicht die beste Idee, aber ich konnte doch meine Begleiterin nicht im Stich lassen. Auch unsere Kollegen halfen, aber als die Angreifer merkten, dass wir keine leichten Opfer waren, genügte ein Pfiff und es kamen weitere Schläger aus der Gasse.
«Ich bin tatsächlich in einen Strassenkampf verwickelt», schoss es mir durch den Kopf. Während ich noch versuchte, mich zu sammeln, hatte schon einer der Schläger den Fokus auf mich und «Wamm» hatte ich seine knochige Faust im Gesicht.
Ich kann im Nachhinein nicht mehr sagen, ob das Szenario fünf, zehn oder dreissig Minuten gedauert hat. Was sich aber nach dem Schlag zugetragen hat, hat sich für mich wie in Zeitlupe angefühlt.
Ich war plötzlich nicht mehr im Fokus, torkelnd landete ich etwas im Abseits, vielleicht auch weil meine Begleiter die Angreifer in die Flucht schlagen konnten, oder weil die geflüchtet sind als plötzlich andere Menschen gekommen sind. Die erste Frage «sind alle ok», hatten zwei mit ja beantwortet, einer jedoch mit dem Zusatz «ja, aber Sonja nicht». «Was, ich nicht?». Ok, ich fühlte mich nicht berauschend und meine Nase schmerzte, aber was war nicht in Ordnung? In dem Moment merkte ich, dass ich an den Händen, die ich gerade noch auf mein Gesicht gehalten habe, Blut hatte. Ein Schock! Hatte man mir die Nase gebrochen? Aber es schmerzte zu wenig. Ich dachte immer, eine gebrochene Nase tut höllisch weh, wenn man all denn Schlägerfilmen im Fernsehen glauben soll. Egal, ich wollte nur noch nachhause und ins Bett. «Wir müssen ins Krankenhaus», hörte ich einen der beiden Jungs sagen. Krankenhaus? Mir schossen Bilder von überfüllten Betten mit schmutzigen Laken und infizierten Spritzen durch den Kopf. Ich gehe in Südamerika in kein Krankenhaus, ich bin doch nicht lebensmüde! «Es ist nicht so schlimm, hört gleich wieder auf», war meine prompte Reaktion. Der Meinung waren meine Begleiter anscheinend nicht und nur Sekunden später fand ich mich in einem Taxi wieder. Der Taxifahrer musterte mich schockiert und drückte mir eine Toilettenpapierrolle in die Hand. Das ist ein Phänomen, das mir mehrmals in Südamerika untergekommen ist, Toilettenpapier im Auto, die billigere Variante des Taschentuchs. Aber was genau soll ich jetzt damit? «Empuje en la cara – Drück sie dir ins Gesicht», war seine Antwort auf meinen fragenden Blick. Als sich die weisse Rolle innert Sekunden auf rot färbte wusste ich, es musste schlimmer sein als gefühlt.
Im Krankenhaus angekommen, bin ich, trotz überfülltem Wartesaal, sofort in den Behandlungsraum gebracht worden. Ich suchte die schmutzigen Laken und unhygienischen Spritzen, doch auf den ersten Blick sah alles sauber aus - obwohl mein Urteilsvermögen etwas eingeschränkt war. Fünf Betäubungsspritzen später war ich auch schon umringt von zwei Ärzten und mehreren Krankenschwestern. Sie machten Handyfotos von mir. Eine Sensation, oder war es so schlimm?
Über 40 Stiche mussten genäht werden, und ich lag eine gefühlte Ewigkeit auf der Liege. Als sie fertig waren, durfte ich meine Hände waschen, sie haben mir allerdings davon abgeraten in den Spiegel zu sehen. Ich habe es nicht gemacht, konnte mir aber anhand des Blutes auf meine Kleidern, Hals und Armen ausmalen wie ich aussehe. Ich war in dieser Nacht nicht mehr als ein einzeiliger Eintrag im Aufnahme-Protokoll des Krankenhauses. Touristin, überfallen, offene Wunde im Gesicht, vermutlich zugefügt durch Schlagring stand in der Zeile. Ich war eine unter vielen, die in dieser Nacht behandelt wurden.
Heute, zwei Jahre nach dem Vorfall, muss ich feststellen, dass mich die Geschichte weder physisch noch psychisch beeinträchtigte. Man sieht die Narbe, aber dank der qualifizierten Arbeit von Dr. Wilson erlebe ich sie nicht als störend. Es ist eine Geschichte die erzählt werden will, meine Geschichte, die zwar ein blutiges aber doch glimpfliches Ende nahm.
Danke Dr. Wilson!
@2014 Sonja Schöberl